Daniel Schwitzer | freier Autor + Journalist
Daniel Schwitzer | freier Autor + Journalist
Morgens Ski fahren, abends Wüste
Bombenalarm während der Vorlesung, Leibesvisitation am Eingang zum Hörsaal, Bunker überall auf dem Campus – so was gibt’s nur in Israel. Warum man trotzdem ruhig ein Auslandssemester im Heiligen Land wagen kann? EINSTIEG Abi hat sich umgeschaut.
Das Sapir-College am Rande des israelischen Städtchens Sderot könnte ein wundervoller Ort zum Studieren sein. Wäre da nicht diese unheimliche Stimme, die schon seit Jahren Angst und Schrecken auf dem Campus verbreitet. Sie gehört einer Frau, so viel ist sicher. Doch wie sie aussieht, weiß niemand genau, ebenso wenig ihren Namen. Bekannt ist allein der unterkühlte, fast teilnahmslose Klang ihrer Stimme, und der verfolgt hier wirklich jeden bis in den Schlaf.
Es geschieht meist wie aus heiterem Himmel. „Zeva adom, zeva adom“, schallt es dann monoton aus Dutzenden von Lautsprechern, und urplötzlich geht es in Sapir um Leben und Tod. Zeva adom, das ist Hebräisch und bedeutet übersetzt in etwa „Alarmstufe Rot“. Genau fünfzehn Sekunden Zeit bleiben jetzt, um sich in einem der Betonbunker, die überall herumstehen, in Sicherheit zu bringen. Am Sapir-College tragen die Studentinnen ihre bequemen Jeans und Sneakers nicht aus modischen Gründen, sondern weil es sich darin einfach schneller rennen lässt als in Röcken und mit hohen Absätzen.
15 Sekunden bis zum Einschlag
Alarmstufe Rot? Bunker auf dem Campus? Was klingt wie die plumpe Story eines Actionfilms, ist in Sderot bittere Realität. Das Problem: Keine fünf Kilometer entfernt liegt die Grenze zu Gaza, einem schmalen Küstenstreifen am Mittelmeer, in dem die radikale Palästinenser-Organisation Hamas herrscht. Hamas erkennt Israel nicht an und will auf dessen Gebiet ihren eigenen Staat gründen. Deshalb beschießen die Islamisten den verhassten Nachbarn seit Jahren mit selbstgebauten Kassam-Raketen. Die haben zwar nur eine Reichweite von elf Kilometern, an ihrer Zerstörungskraft ändert das jedoch nichts. Tausende Kassams gingen in der Vergangenheit über Sderot und Umgebung nieder, etwa zwanzig trafen auch das Sapir-College. Im Februar starb der Logistikstudent Roni Yihya, nachdem ihm auf dem Campus-Parkplatz ein Raketensplitter in die Brust getroffen hatte. Yihya war trotz des Alarms einfach neben seinem Wagen stehen geblieben. Warum, weiß niemand.
„Die meiste Zeit ist es bei uns wie im Paradies, und dann bricht vom einen auf den anderen Moment die Hölle los“, beschreibt Ruthie Eitan die Lage. Die 50-Jährige unterrichtet Geschichte und kümmert sich nebenbei um die internationalen Beziehungen der Hochschule. Ausländische Gaststudenten gibt es in Sapir allerdings keine. „Wir hätten sehr gerne welche, aber das können wir derzeit einfach nicht verantworten“ Immerhin: Seit ein paar Monaten herrscht zwischen Israel und Hamas Waffenruhe, offiziell erst mal nur bis November. „Wir geben die Hoffnung nicht auf, dass es irgendwann dauerhaft friedlich sein wird.“
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Nicht überall im Heiligen Land ist die Luft so bleihaltig wie an der Grenze zum Gazastreifen. Im Gegenteil, die Situation in Sderot bildet selbst im Dauerkrisengebiet Israel, wo sich Juden und Araber seit sechzig Jahren nicht darauf verständigen können, friedlich nebeneinander zu leben, die Ausnahme.
Tel Aviv – fast schon Weltstadt
Ortswechsel. Wenn sich Tini Mandl von einem anstrengenden Tag erholen will, schnappt sie sich ihr Badezeug und radelt zum Strand. Die Psychologie-Studentin aus Konstanz nutzt die Semesterferien in Deutschland, um an der Universität von Tel Aviv Hebräisch zu lernen. Vor vier Jahren machte sie zum ersten Mal Station in Israel und verliebte sich Hals über Kopf in die „weiße Stadt“. Später kam sie für ein Auslandssemester zurück, und es fühlte sich immer noch genauso an. Nach ihrem Diplom im nächsten Jahr will Tini den Bodensee dauerhaft gegen das Mittelmeer eintauschen. „Sicher, Tel Aviv ist anstrengend, heiß, laut, dreckig“, sagt die 27-Jährige, „aber das macht mir irgendwie nichts aus. Die Leute hier sind sehr herzlich und haben überhaupt keine Berührungsängste. Man kann sich benehmen wie man will, und niemand guckt einen schief an.“
Tel Aviv ist die Metropole schlechthin in Israel, fast schon Weltstadt. Ein bisschen oberflächlich, ein bisschen selbstverliebt, mit Hochhaus-Skyline, trendigen Leuten, wildem Nachtleben – und einer richtig guten Uni. Kassam-Raketen gibt es hier nicht, obwohl Sderot gerade mal eine Autostunde entfernt liegt. Gefühlt sind es sowieso Lichtjahre. Einzig die beiden Wachmänner am Uni-Tor erinnern Tini Mandl jeden Morgen daran, dass sie eben doch in keinem ganz normalen Land wohnt. „Waffe?“, fragen die schroff jeden, der auf den Campus will, und durchsuchen mehr schlecht als recht die Rucksäcke und Umhängetaschen der Studenten. Tini stören die ständigen Sicherheitschecks in der ganzen Stadt schon lange nicht mehr. „Da gewöhnt man sich schneller dran, als man denkt.“
Hebräisch lernen gehört dazu
Viele deutsche Gaststudenten verirren sich bislang nicht nach Israel, dabei stellt das Heilige Land heute eine interessante Alternative zu den klassischen Study-abroad-Zielen dar. Egal ob Biblische Archäologie im uralten Jerusalem, Nahostpolitik im geschäftigen Tel Aviv oder Friedens- und Konfliktmanagement im multikulturellen Haifa – fast alle Unis haben inzwischen englischsprachige Kurse im Programm. Bachelor-Studierende können dabei wählen, ob sie nur einen Sommer, ein Semester oder ein komplettes Jahr bleiben wollen. Zurück in Deutschland, lassen sich die absolvierten Seminare meist problemlos aufs Studium anrechnen. „Am besten, man setzt sich schon bei der Planung des Aufenthalts mit seinem Professor zusammen und überlegt, welche Lehrveranstaltungen fürs eigene Fach sinnvoll wären“, rät Shimon Lipsky von der International School der Universität Jerusalem. „Dann gibt’s hinterher keine bösen Überraschungen.“ Doch aufgepasst: Die Undergraduate-Kurse für Gäste richten sich in erster Linie an Geistes- und Sozialwissenschaftler. Auch Theologen kommen im Land der Bibel natürlich voll auf ihre Kosten. Für einen Biologie- oder Mathematik-Studenten ist hingegen kaum mal etwas dabei.
Obwohl alle Kurse auf Englisch stattfinden, kommen die „overseas students“ während ihres Aufenthalts in Israel nicht um die Landessprache Hebräisch herum. Und die hat es ganz schön in sich, nicht nur weil man sie von rechts nach links schreibt. Die Studenten müssen zudem ein ganz neues Alphabet lernen, mit 22 fremd aussehenden und klingenden Buchstaben, von א (Aleph) bis ת (Tav). „Das mag manch einem schwer fallen“, sagt Lipsky, „aber die Sprache öffnet unseren Gästen letztlich das Tor zur israelische Gesellschaft“. Schließlich sollen diese ja nicht nur büffeln, sondern nebenbei auch Land und Leute kennen lernen.
Unglaublich klein, unglaublich divers
Und welches Land ließe sich besser erkunden als das winzige und dabei so vielfältige Israel. „Hier kann man morgens auf dem Golan Ski fahren, mittags durch die Negev-Wüste wandern und abends im Roten Meer baden“, schwärmt Tanja Jaekel. Wo es ihr persönlich am besten gefällt, lässt sich schon an ihrem Studienfach ablesen. Die Neubrandenburgerin ist an der Ben-Gurion-Universität in Be’er Sheva eingeschrieben und absolviert dort seit etwas mehr als einem Jahr den englischsprachigen Master in „Desert Studies“. Davor hat Tanja in Berlin Biologie studiert. „Als ich in den Negev gekommen bin und diese unglaubliche Weite gesehen habe, war ich total begeistert.“ Auch wenn der viele Plastikmüll, der überall herumlag, sie erst mal schockierte. „In punkto Umweltbewusstsein haben die Israelis leider noch ziemlichen Nachholbedarf.“ An der Uni betreibt Tanja neben ihrem normalen Studienalltag inzwischen ihr eigenes Forschungsprojekt: Immer nachts liegt sie in der Wüste auf die Lauer und beobachtet das Verhalten der Füchse und Schakale, die dort leben und sich gegenseitig die Nahrung streitig machen. Nach dem Master-Abschluss 2009 möchte die 30-Jährige ihrer Wahlheimat treu bleiben, zunächst ihren Doktor machen und später vielleicht in einem der vielen Naturparks des Landes arbeiten.
Dass es in Israel gar nicht so gefährlich ist, wie das im Fernsehen manchmal aussieht, davon konnten sich Tanjas Familie und Freunde in Deutschland inzwischen selbst überzeugen. „Die haben mich anfangs für verrückt erklärt, als ich ihnen von meinen Plänen berichtet habe“, erzählt sie. „Mittlerweile waren aber schon ganz viele zu Besuch. Und alle fanden’s super!“
aus: Einstieg Magazin, Oktober 2008
Betonbunker auf dem Campus des
Sapir-Colleges